Dharma-Lernaufgaben (Lebenslektionen)

Im System der Psychologischen Handanalyse unterscheiden wir zwischen zwei parallelen Ebenen des Dharma. Diese beiden Ebenen stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander und bedingen sich gegenseitig. Sie können daher letzten Endes inhaltlich nicht voneinander getrennt werden; jedoch empfiehlt es sich, dass wir sie zum besseren Verständnis zunächst getrennt voneinander analysieren. Wir nennen diese beiden Ebenen: Dharma-Lernaufgaben und Dharma-Dienstaufgaben.

Die Dharma-Lernaufgaben (Lebenslektionen)

Die erste Ebene des Dharma bezeichnen wir als die Ebene der Dharma-Lernaufgaben (oder in der umgangssprachlichen Kurzform auch einfach als «das Lern-Dharma»). Diesem Aspekt liegt das Verständnis zugrunde, dass nämlich jeder Mensch mit dem Wunsch und der Absicht auf diesen Schulungsplaneten Erde gekommen ist, sich hier weiter schulen zu lassen. Jeder Mensch hat sich vorgenommen, hier in der einen oder anderen Weise weiter an sich zu arbeiten, bestimmte Dinge zu lernen, bestimmte Erfahrungen zu sammeln und bestimmte Erkenntnisse zu gewinnen.

Wenn eine Seele sich dafür entscheidet, sich als Mensch auf der Erde zu inkarnieren, dann steht dahinter meist der Wunsch, in der eigenen inneren Entwicklung dort fortzufahren, wo sie in der vergangenen Inkarnation (oder manchmal auch in einem Zwischenleben) aufgehört hat. Das heißt, die Seele möchte in ihrem neuen Menschenleben auch einige neue Lektionen lernen und damit einige nächste Schritte in ihrer persönlichen inneren Bewusstseinsentwicklung voranzukommen.

Dieser lange und verworrene Weg zu sich selbst, der sich über viele, viele menschliche Inkarnationen erstrecken kann, wird in der analytischen Psychologie nach C.G. Jung «Individuation» genannt. Jung schreibt dazu: «Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte ‹Individuation› darum auch als ‹Verselbstung› oder als ‹Selbstverwirklichung› übersetzen.»

Während eine Seele also auf der Suche nach sich selbst in dieser polaren materiellen Welt unterwegs ist, ergeht diese wohlmeinende göttliche Empfehlung an sie: Achte darauf, dass du in jeder deiner menschlichen Inkarnationen zumindest ein paar Schritte vorankommst. Wenn sie sich entscheidet, dieser Empfehlung zu folgen, dann nimmt sich eine Seele vor, insbesondere in den nachstehenden drei Aspekten weiter voranzukommen. Alle drei Aspekte, die selbstverständlich eng miteinander verbunden sind und sich im Grunde nicht strikt voneinander trennen lassen, machen zusammengenommen das aus, was wir als Dharma-Lernaufgaben bezeichnen.

1.) Wir wünschen uns erstens, unser Verständnis über uns selbst weiter zu vertiefen – über unser wahres Wesen und unseren Ursprung, über die Welt und deren Gesetze sowie über alles, was diese Welt einer Seele zu bieten hat. Für jede menschliche Inkarnation wünschen wir uns, diesbezüglich ein paar Lernstufen voranzukommen und höher zu steigen, indem wir bestimmte neue Erkenntnisse gewinnen. Erkenntnisse lassen sich auf unterschiedliche Art gewinnen, beispielsweise durch Lernen und Studieren, durch Praktizieren und das Sammeln von Erfahrung oder auch durch Kontemplation und Meditation, wodurch einem ebenfalls neue Einsichten und Erkenntnisse zuteil werden können.

2.) Wir wünschen uns zweitens, unseren Charakter mit jeder Inkarnation ein Stück weiter zu veredeln, indem wir bestimmte neue, in uns schlummernde positive Eigenschaften (Tugenden) entfalten. Über dieses Thema haben wir in vorherigen Kapiteln bereits gesprochen. Es geht darum, Untugenden in Tugenden umzuwandeln. Es geht darum, bei bestimmten Charaktereigenschaften von der Einseitigkeit, die jeder Untugend zugrunde liegt, in die goldene Mitte zu kommen, in der sich die vermeintliche Untugend wieder als Tugend zeigt und in der sich jede «Schwäche» in eine positive Stärke zurückverwandelt.

3.) Und damit diese beiden Wünsche in Erfüllung gehen können, wünschen wir uns drittens, unseren Fortschritt in diesen beiden Punkten zu beschleunigen, indem wir belastende Karma-Muster durchschauen, auflösen und loslassen. Denn solche karmischen Prägungen, die vor allem in unseren Mentalkörper durch frühere Handlungen und Erfahrungen eingestanzt sind, stellen die eigentliche Herausforderung, das eigentliche Hindernis dar, das es zu überwinden gilt, um die gewünschten Stufen voranzukommen.

Theoretisch geht es bei den Dharma-Lernaufgaben im Grunde nur um die beiden erstgenannten Punkte: Wir sind auf unserer langen Wanderung hierher gekommen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und weitere Tugenden zu entfalten. Doch kommen uns bei diesem Vorhaben bedauerlicherweise ständig unsere karmischen «Altlasten» in die Quere, die uns beim Lernen und Veredeln massiv behindern können. In der Praxis der Psychologischen Handanalyse sind wir daher in erster Linie mit diesem dritten Aspekt konfrontiert, denn Menschen suchen ja insbesondere dann Analysen, Beratungen oder Therapien auf, wenn sie spüren, dass sie in ihrem Leben nicht wie gewünscht vorankommen, wenn sie spüren, dass es ihnen an irgend etwas fehlt oder dass irgend etwas zu viel ist.

Somit gehört es ebenfalls zu unseren Lernaufgaben, dass wir unsere persönlichen karmischen Altlasten durchschauen, auflösen und loslassen. Diese umfassen ein breites Spektrum an Problemen wie etwa: falsche Identifikationen; weltanschauliche Missverständnisse und Irrtümer; Denk- und Wertemuster, die uns in einer kognitiven Enge gefangen halten; emotionale Verletzungen, die nicht ausgeheilt sind; emotionale Disharmonien wie unterschwellige Ängste, Zwänge, Triebe und Hemmungen; destruktive Verhaltens- und Reaktionsmuster; untugendhafte Angewohnheiten, Laster, Abhängigkeiten, Süchte usw. Sie alle verhindern, dass wir in eine innere Balance kommen, dass wir ungehindert und freudvoll lernen können, dass wir ungestört und leichtfüßig unser Dasein auf Erden genießen können.

Doch das Leben meint es gut mit uns. Es führt uns mit gütiger Hand immer wieder in Situationen, in denen wir die Möglichkeit angeboten bekommen, Erkenntnisse zu gewinnen, Tugenden zu entfalten und Muster aufzulösen. Wenn wir wachsam und achtsam sind, werden wir feststellen, dass wir in unserem Dasein fortwährend liebevoll von einer Lernmöglichkeit zur nächsten geführt und begleitet werden und dass wir durch kleinere oder größere Prüfungen regelmäßig dazu aufgefordert werden, an uns zu arbeiten und persönlich zu wachsen. Das Leben schenkt uns durch diese Prüfungen, Herausforderungen und Probleme beständig neue Gelegenheiten, unsere unterschwelligen Muster und Ängste zu durchschauen, an unserem Charakter zu arbeiten und damit uns selbst besser verstehen und lieben zu lernen. Und jedes Mal, wenn uns solche Gelegenheiten angeboten werden, haben wir die freie Wahl, ob wir sie wahrnehmen wollen oder nicht. Denn unser Leben besteht letztlich aus zwei Arten von Gelegenheiten – aus verpassten und aus wahrgenommenen.

Wie bereits erwähnt, bedeutet das Wort «Problem» wörtlich «Hindernis», ein Hindernis, das uns vom Leben in den Weg gelegt wird, damit wir es überwinden und daran wachsen [< altgriech. próblema = «das Vorgelegte, das Hindernis»]. Wenn das Leben uns also vor Probleme und Herausforderungen stellt, wenn wir leicht angestupst oder auch mal heftig durchgeschüttelt oder sonst irgendwie geprüft werden, dann haben wir in solchen Situationen die Möglichkeit, durch das Lösen und Überwinden des vor uns hingeworfenen Problems unsere bisherigen Begrenzungen zu erweitern, einen Schritt in unserer Entwicklung voranzuschreiten, eine nächste Stufe unseres inneren Werdegangs, unserer Individuation zu erklimmen. So ist jedes Problem einerseits zwar jedes Mal eine emotionale und rationale Herausforderung für uns, anderseits aber auch immer ein Wachstumsangebot und eine Chance zum Vorankommen.

Oft fühlen wir uns jedoch in genau diesen für uns schwierigen, herausfordernden Momenten als Opfer der Umstände oder anderer Menschen und meinen, das Leben sei grausam zu uns und wolle uns bestrafen. Allzu oft reagieren wir dann damit, dass wir uns selbst bemitleiden und resignieren oder dass wir zornig und aggressiv werden. Gerne weichen wir auch auf Schuldzuweisungen aus, indem wir irgend einen Sündenbock suchen, irgend jemanden, den wir für unsere Probleme verantwortlich machen könnten.

Doch erst wenn es uns gelingt, gerade in Zeiten solcher Prüfungen die volle Eigenverantwortung für alle unsere Geschicke zu übernehmen und uns mit unseren jeweiligen Herausforderungen Schritt für Schritt konstruktiv auseinanderzusetzen, erst dann können wir erkennen, dass genau diese Phasen in unserem Leben entscheidende Meilensteine sind. «Das Leben muss vorwärts gelebt und rückwärts verstanden werden», sagte der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855) einst. Oft erkennen wir erst im Nachhinein, manchmal Jahre später, wie wichtig schwierige Lebensphasen für unsere innere Entwicklung waren.

3. September 2018 |