Die Dharma-Dienstaufgaben (Lebenszwecke)

Die zweite Ebene des Dharma bezeichnen wir als die Ebene der Dharma-Dienstaufgaben (oder in der umgangssprachlichen Kurzform auch einfach als «das Dienst-Dharma»). Diesem Aspekt liegt das Verständnis zugrunde, dass jeder Mensch zum Dank und zum Ausgleich dafür, dass er hier auf dem Schulungsplaneten Erde leben darf, dass er von der Welt, von ihren Gesetzen und von den anderen Geschöpfen profitieren darf, nun seinerseits dem Planeten und seinen Bewohnern auch etwas von sich zurückgeben sollte. Richard Unger nennt diese Ebene in seinem «LifePrints»-System «Life Purpose» («Lebenszweck»).

Man könnte die im letzten Blog-Beitrag beschriebenen Dharma-Lernaufgaben auch als das «innere Dharma» eines Menschen bezeichnen, und die Dharma-Dienstaufgaben könnte man entsprechend als das «äußere Dharma» bezeichnen.* 

Wie wir gesehen haben, werden wir während unseres Aufenthaltes auf der Erde auf Schritt und Tritt liebevoll und verständnisvoll geführt, begleitet und unterstützt, so dass wir stets die optimalen Voraussetzungen haben, um Erkenntnisse zu gewinnen, Tugenden zu entfalten, Muster aufzulösen und durch all dies unser Bewusstsein weiterzuentwickeln und unsere Talente und Stärken möglichst vollständig auszuleben. Dies alles sind große Dienste, mit denen die Natur und die menschliche Gesellschaft uns freigebig beschenken. Daher sind wir aufgefordert, erstens diese Geschenke dankbar anzunehmen und zweitens sie auch dankbar und freudvoll zu erwidern, indem wir unsererseits die Natur und die menschliche Gesellschaft ebenfalls beschenken, und zwar ebenfalls durch Dienst. Dieses Prinzip nennen wir unsere Dharma-Dienstaufgabe.

Unter Dienst verstehen wir in diesem Zusammenhang, dass wir der Erde und den Menschen in Achtsamkeit und Dankbarkeit dienen, indem wir möglichst viel von unserer Aufmerksamkeit, von unserer Zeit und von unserer Energie einer Tätigkeit widmen, die nicht nur uns selbst Nutzen bringt, sondern auch anderen. Unsere Dharma-Dienstaufgabe gleicht somit einer Art «Schulgeld», das wir hier zum Ausgleich für unsere irdische Schulung entrichten. Man könnte sie auch «Berufung», «Bestimmung» oder eben «Lebenszweck» nennen.

Im Idealfall entspricht unsere Dharma-Berufung sogar unserem Beruf, also dem, womit wir unseren notwendigen Lebensunterhalt verdienen. Dann ist unser Beruf nicht bloß ein «Job» oder Gelderwerb, sondern tatsächlich eine «Berufung», ein Dienst an der Gemeinschaft der Menschen, der zugleich auch unsere eigene innere Entwicklung fördert. Falls es aufgrund äußerer Umstände (noch) nicht möglich ist, dass wir mit dem Erfüllen unseres Lebenszwecks auch unser Auskommen bestreiten, so können wir doch versuchen, die Themen unseres Dharma nach und nach, Schritt um Schritt in unser Leben zu integrieren und auf diese Weise möglichst viel unserer «Freizeit» unserer Dharma-Dienstaufgabe zu widmen.

Es ist uns wichtig, hierbei die Betonung auf «Schritt um Schritt» zu legen. Denn beim Erfüllen des Dharma ist es unsinnig und kontraproduktiv, wenn man sich zu sehr unter (Erfolgs-)Druck setzt. Nachdem man – möglicherweise im Zuge einer Handanalyse – seinen Lebenszweck erkannt und anerkannt hat, darf man sich ruhig ausreichend Zeit gönnen, um sein äußeres Leben Schritt um Schritt entsprechend umzugestalten. Wenn man plötzlich feststellt, dass die bisherigen Tätigkeiten und der bisherige Beruf nicht im Einklang mit dem eigenen Dharma stehen, dann sollte man sich daraus keine Selbstvorwürfe und kein schlechtes Gewissen machen, sondern stattdessen geduldig, verständnisvoll und liebevoll mit sich selbst sein und sich die Gelegenheit geben, in möglicherweise kleinen, aber doch soliden Schritten Veränderungen einzuleiten. Auch dies sind äußerst wichtige Aspekte des Dharma eines jeden Menschen: respektvolles Verständnis für sich selbst; gütiges Einverstandensein mit den eigenen Unzulänglichkeiten, solange sie noch nicht überwunden sind; liebevolle Geduld im Umgang nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selber.

Das angestrebte Erfüllen des Dharma kann nicht unter Druck erzwungen werden. In sein Dharma hineinzuwachsen, ist ein stetiger Prozess. Es gibt hierbei auch keinen allgemeingültigen Maßstab dafür, wie lange dieser Prozess der Transformation des äußeren und inneren Lebens zu dauern hat, denn jeder Mensch ist von seinen Fähigkeiten und von seiner Ausstattung her unterschiedlich und braucht seine eigene, ihm gemäße Zeitspanne, um Zusammenhänge zu erkennen und Prozesse erfolgreich umzusetzen.

Und gerade weil jeder einzelne Mensch in seinem karmischen Werkzeugkoffer ganz bestimmte Talente und Begabungen, Potenziale, Ressourcen und Stärken mitbringt, die ihn einzigartig machen, ist jeder Mensch auch aufgefordert, diese seine individuellen Befähigungen zu entdecken und sie dann in eine sinnvolle und nützliche Tätigkeit einzubringen, die möglichst im Bereich seiner Dharma-Dienstaufgabe liegt. In einer idealen Gesellschaft sollte kein Mensch einer Tätigkeit nachgehen oder einen Beruf ausüben, der nicht seiner Dharma-Bestimmung entspricht, denn nur durch das Erfüllen unseres Dharma können wir alle, wie bereits dargelegt, in unserem Leben tatsächlich in der Tiefe unseres Inneren glücklich werden.

Die Dharma-Dienstaufgabe braucht allerdings nicht etwas Spektakuläres oder Aufsehenerregendes zu sein, ja sie braucht nicht einmal unbedingt von oberflächlichem, also wirtschaftlichem oder politischem Nutzen für die Allgemeinheit zu sein. Nicht jeder ist dazu bestimmt, ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein beliebter Anführer, ein berühmter Künstler oder ein weiser Menschheitslehrer zu sein. Bei manchen Menschen besteht das Dharma einfach nur darin, dass sie ihren Platz im Leben finden und dann einer Beschäftigung nachgehen, die sie von Herzen gerne machen, in der sie für sich einen wirklichen Sinn erkennen können oder für die sie sich mit vollem Engagement zu begeistern vermögen. Denn durch solches Tätigsein werden sie erfüllt und glücklich sein, und dieses Erfülltsein und Glücklichsein wird dann seinerseits auf andere Menschen abstrahlen und ihnen auf diese Weise dienen. Das wichtigste Kriterium im Erfüllen des Dharma sind also niemals äußere Faktoren wie etwa Bezahlung oder Ansehen, sondern es besteht immer darin, dass es tatsächlich das eigene, individuelle Dharma ist, dem man sich widmet. In der Bhagavad-Gītā (3.35) heißt es, dass es besser ist, sein eigenes Dharma unvollkommen auszuführen als zu versuchen, Beschäftigungen nachzugehen, die nicht dem eigenen Dharma entsprechen – selbst wenn man dabei erfolgreich sein mag.

So hat jeder von uns in seinem Dasein auf Erden eine persönliche Aufgabe, einen «Inkarnationsjob», einen «Seelenvertrag» zu erfüllen. Und so sind wir alle aufgefordert, erstens unsere anstehenden Dharma-Lernaufgaben zu lösen und zweitens genau zu ergründen, in welchen Lebensbereichen unsere Bestimmung, unsere Dharma-Dienstaufgabe liegt, und uns dann eine Tätigkeit zu suchen, die dieser Aufgabe entspricht. Das Erfüllen unseres persönlichen Dharma ist wichtig und notwendig – sowohl für unsere eigene Entwicklung und unser eigenes Wohl als auch für die kollektive Entwicklung unserer Familie, unseres Umfeldes, unserer Generation.

Es gibt für jeden einzelnen von uns einen Grund, warum wir gerade jetzt und gerade hier auf dieser Welt sind. Unsere Dharma-Verpflichtung sowohl uns selbst gegenüber als auch gegenüber der Gesellschaft besteht darin, diesen Grund herauszufinden. Jeder von uns besitzt bestimmte Talente und Eigenschaften, die ihn einzigartig machen, und jeder ist aufgefordert, mit genau diesen Talenten und Eigenschaften der Menschheit und Mutter Erde zu dienen. Denn wenn nicht jeder von uns genau den Platz innerhalb der menschlichen Gesellschaft einnimmt, der für ihn vorgesehen und reserviert ist, dann bleibt dieser Platz unbesetzt und leer und reißt eine Lücke ins gesellschaftlichen Gefüge. Wie es der Schriftsteller Oscar Wilde (1854–1900) einst ausdrückte: «Be yourself. Everyone else is already taken.» («Sei du selbst. Alle anderen sind schon vergeben.»)

Also: Jeder Mensch wird gebraucht, jedes Menschenleben hat einen höheren Sinn und eine Bestimmung, und keiner ist überflüssig. So sind wir alle aufgefordert, unser eigenes Leben ernst zu nehmen und uns unserer Verantwortung gegenüber uns selbst sowie auch gegenüber der Gesellschaft und der Zeit, in der wir leben, bewusst zu sein und dementsprechend zu handeln. Dies zu tun ist eine der größten Herausforderungen und zugleich eine der größten Chancen des menschlichen Daseins. Man nennt es: das Erfüllen des Dharma.

* Allein der Vollständigkeit wegen sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Veda-Schriften nebst dem äußeren Dharma (Beruf und Berufung) und dem inneren Dharma (charakterliche Tugenden) noch eine dritte Form des Dharma beschreiben, nämlich gleichsam das «spirituelle Dharma», das in der Sanskritsprache Sanātana-dharma, «das ewige Dharma» genannt wird. Damit ist nichts Geringeres gemeint die ewige wesensgemäße Stellung einer spirituellen Seele, die nach unzähligen Geburten und Toden innerhalb der materiellen Welt letzten Endes den Kreislauf des Karma und der Seelenwanderung durchbricht und nach Hause, in die transzendente Heimat zurückkehrt. Die Stellung, die eine solche befreite Seele dann in ihrem ewigen liebevollen Austausch mit Gott einnimmt, wird als Sanātana-dharma bezeichnet. 

13. September 2018 |