Die Kunst des kritischen Unterscheidens und des richtigen Entscheidens

Hierbei geht es in einem ersten Schritt darum zu lernen, Absolutes und Relatives, Wahres und Unwahres, Gutes und Ungutes, Notwendiges und Nichtnotwendiges, Wesentliches und Unwesentliches, Sinnvolles und Unsinniges, Passendes und Unpassendes, Taugliches und Untaugliches usw. zu benennen und auseinanderzuhalten.*

Eine solche Betrachtung und Unterscheidung hat immer zwei Ebenen: eine objektive und eine subjektive. Zum einen gibt es unbestreitbare, objektiv messbare und verifizierbare Fakten sowohl in der Natur als auch in der Kultur; ebenso gibt es gewisse Regeln der Logik und der Mathematik, denen objektive Gültigkeit innewohnt. Die Anwendung dieser objektiven Regeln sowie die Interpretation der wissenschaftlich erfassbaren Fakten jedoch ist immer subjektiv und von Mensch zu Mensch verschieden. Auch die Kriterien und Maßstäbe, nach denen wir beispielsweise Passendes und Unpassendes oder Sinnvolles und Unsinniges kategorisieren, sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Je nach unserem Weltbild, nach unserem Wissensstand, nach unseren gemachten Erfahrungen und nicht zuletzt auch nach unserer ethischen Tugendhaftigkeit wird jeder einzelne von uns in seinem Forschen und Nachdenken über das Leben zu bestimmten Schlussfolgerungen gelangen, die sich von den Schlussfolgerungen anderer Menschen durchaus unterscheiden können.

Simple Pauschalurteile wie etwa «Alles ist relativ», «Ethik ist immer subjektiv», «Wissenschaft ist immer objektiv», «Es gibt hier nur eine einzige korrekte Sichtweise», «Diese Option ist alternativlos» und dergleichen sind daher stets bloß Halbwahrheiten. Solche Aussagen, mit denen versucht wird, die immense Komplexität und Vielfältigkeit des Daseins zu vereinfachen und unterschiedslos alles über einen Kamm zu scheren, sind also weder völlig richtig noch völlig falsch, sondern halb-richtig bzw. halb-falsch. Denn es gibt in der Realität dieser Welt nicht nur schwarz und weiß, es gibt nicht nur ein «Entweder-oder», sondern in den allermeisten Fällen eben ein«Sowohl-als-auch». Dies macht das Philosophieren und das Forschen sowie das gesamte Menschsein zwar kompliziert, aber dafür auch abwechslungsreich, spannend und individuell. Insbesondere für Schüler in der Lebensschule des Denkens ist es wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um sich in der Tiefe auf diese Themen einzulassen.

In einem zweiten Schritt, also nach dem kritischen Unterscheiden gemäß den eigenen subjektiven Maßstäben, folgt das richtige Entscheiden. Wenn wir die unterschiedlichen Interpretationen der mannigfaltigen Daseinsfaktoren sowie die unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten der kosmischen Gesetze und Empfehlungen gründlich studiert haben, wenn wir die verschiedenen zur Auswahl stehenden Weltbilder zu erkennen und zu unterscheiden gelernt haben, dann sind wir angehalten, uns für das Richtige zu entscheiden.

Auch dieser Entscheid ist subjektiv: Was für mich persönlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt «richtig» und was «falsch» ist, hat selbst für mich immer nur vorübergehende Gültigkeit, ganz zu schweigen davon, dass es auch fürandere Lebewesen gleichermaßen gültig sein müsste. Da sich jeder Mensch auf dem Schulungsplaneten Erde in einem dynamischen Entwicklungsprozess befindet und beständig seinen Erfahrungsschatz und seinen Wissenshorizont erweitert, ändert sich im Laufe der Zeit auch sein Verständnis von «richtig» und «falsch», von zu ihm «passend» und für ihn «unpassend». Dennoch gibt es zu jedem Zeitpunkt für jeden Menschen etwas, das in Anbetracht der relevanten Faktoren (wie etwa: Ort und Zeitpunkt des Geschehens / aktuelle äußere Umstände / Befindlichkeit und Wünsche der beteiligten Personen usw.) in seinem Hier und Jetzt für ihn richtig, stimmig, tauglich und nicht zuletzt auch realistisch ist. Dieses herauszufinden und danach zu handeln, ist eine große Herausforderung für jeden Menschen.

Der Schriftsteller Karl Kraus (1874–1936) drückte es mit folgendem bemerkenswerten Aphorismus einst so aus: «In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.»

* An dieser Stelle ließe sich auf die häufig zitierte Anekdote von den «drei Sieben» verweisen, die wohl fälschlicherweise dem antiken Philosophen Sokrates zugeschrieben wird. Unabhängig von der ungeklärten Quellenlage ist die Aussage dieser Anekdote jedoch höchst bemerkenswert und illustriert unser vorliegendes Thema des kritischen Unterscheidens in anschaulicher Weise. Sie lautet: Bevor man irgendetwas glaubt oder gar weitererzählt, sollte man es kritisch prüfen und durch die folgenden drei Siebe sieben: «Ist es wahr? Ist es gut? Ist es notwendig?» Erst wenn das, was man zu sagen beabsichtigt, durch alle drei Siebe hindurchgegangen ist, wenn es also sowohl wahr als auch gut als auch notwendig ist, sollte man es tatsächlich aussprechen.

15. August 2019 |