In der philosophischen Fachsprache sowohl im Latein als auch im Sanskrit wird auf den Unterschied zwischen Wissen und Weisheit hingewiesen. Ein bekanntes antikes Motto heißt beispielsweise: Scire et intellegere – «wissen und erkennen» (etwa bei Augustinus von Hippo, 354–430). Die Forderung lautet, dass ein Philosoph, also ein ernsthaft nach Weisheit Strebender, einerseits um lernbares Wissen bemühen soll, indem er von einem geeigneten Lehrer lernt. Zum anderen soll er jedoch auch danach trachten, dieses Wissen selbstverantwortlich in eigenen Leben umzusetzen. Dies geschieht durch eigenständiges Denken (im Unterschied zum bloßen Auswendiglernen und Repetieren), durch tiefes Nachsinnen und inneres Erkennen sowie durch praktisches Anwenden des Gelernten und Erkannten.
Die Sanskritsprache kennt in diesem Zusammenhang die beiden Begriffe Jñāna und Vijñāna, was ebenfalls «Wissen» und «Erkenntnis» bedeutet. Auch hier wird unter Erkenntnis das tiefe Verwirklichen und das praktische Anwenden des gelernten Wissens verstanden, welche ihrerseits erst dazu führen, dass dieses Wissen zweifelsfrei und unerschütterlich wird und damit allmählich zu Weisheit erblüht.
In einer Rezension der Bhagavad-Gītā, des wohl bekanntesten und bedeutendsten Werkes der altindischen Veda-Literatur, schrieb der deutsch- schweizerische Dichter Hermann Hesse (1877–1962) im Jahre 1912: «Das Wunderbare an der Bhagavad-Gītā ist, dass … in ihr eine ungelehrte, erlebte Weisheit sich als helfende Güte offenbart. Diese schöne Offenbarung, diese Lebensweisheit, diese zu Religion erblühte Philosophie ist es, die wir suchen und brauchen.»
Damit bringt Hesse deutlich zum Ausdruck, dass das wahre, das tiefe Philosophieren immer eine religiöse und kosmische Dimension umfasst und weit über das kluge Ansammeln von Informationen und vereinzelten Wissenshäppchen hinausgeht. Dies gilt insbesondere für die gesamte östliche Philosophie, wie Heinrich Zimmer (1890–1943), einer der bedeutendsten deutschen Indologen, in diesem Zusammenhang einst feststellte: «In der Tat strebt das indische Denken nicht nach Information, sondern nach Transformation.»
Wenn ein Philosoph auf diese empfohlene Art und Weise seine Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Verinnerlichung und die Verwirklichung seiner Anschauungen und seines Wissens richtet, wenn er sich ernsthaft um die Transformation seines Bewusstseins und um die Veredelung seines Charakters bemüht, dann verliert er zusehends das Interesse daran, an der Oberfläche des bloß mental-rationalen Kopfwissens etwa mit Philosophen und Schriftgelehrten anderer Anschauungen zu streiten. Es ist ihm nicht mehr wichtig, in einem Disput unbedingt «recht zu haben» oder zu «gewinnen», denn er hat erkannt, dass es beim Philosophieren und Wahrheitsuchen um etwas ganz anderes geht. Stattdessen gewinnt er an Tiefe, verliert er seine Blindheit, gewinnt er seine Weisheit.
Ein solch weise gewordener Philosoph hat gelernt, die unterschiedlichen Regungen und Bewegungen in der Welt seiner Gedanken aufmerksam zu beobachten und somit möglichst klar wahrzunehmen, was genau sich in jeder Situation in seinem Gedankenkörper abspielt. Er hat einen Blick dafür entwickelt, wann sein Bewusstsein unter dem Einfluss von negativen, unlichten, unsinnigen, unwichtigen, verwirrenden, erniedrigenden Gedanken steht und wann unter dem Einfluss von positiven, lichtvollen, sinnvollen, notwendigen, schlüssigen, erhebenden Gedanken. So ist er in der Lage, in jeder Situation eine optimal angemessene, also richtige Entscheidung zu treffen. Und da er im Zuge seiner inneren Entwicklung geistig mündig geworden ist, ist er auch bereit und fähig, für alle seine getroffenen Entscheidungen (sowie auch für deren karmische Konsequenzen) stets die volle Verantwortung zu übernehmen.
(Auszug aus Band 2 „Die Wissenschaft der Psychologischen Handanalyse“).
4. Januar 2020 | Allgemein