Der Umgang mit emotionalen Wechselbädern

»Freudvoll
und leidvoll,
gedankenvoll sein,
Langen
und bangen
in schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend
zum Tode betrübt,
Glücklich allein
ist die Seele, die liebt.«

Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Mal ist unser Gemüt fröhlich, aufgekratzt und überschwänglich, doch im nächsten Moment schon kann es traurig und trübselig werden. Mal fühlen wir uns beflügelt, verzückt oder verliebt, doch es braucht nur sehr wenig – ein falsches Wort vielleicht bloß oder eine kleine, ernüchternde Entdeckung oder Enthüllung –, dass unsere positive Stimmung aus heiterem Himmel ins Negative kippt und wir uns plötzlich beleidigt, wütend oder angeekelt fühlen. Auch umgekehrt ist es möglich, dass wir uns gerade noch vernachlässigt, enttäuscht, niedergeschlagen oder frustriert gefühlt haben und dass dann ein kleines Ereignis – eine unerwartete Liebesbekundung etwa oder die Nachricht eines Geldgewinns oder auch bloß ein Tor unserer Lieblingsmannschaft – unsere Stimmung sofort zum Umschlagen ins Positive bewegt. So kann es vorkommen, dass wir in unserer wilden Achterbahnfahrt der Gefühle an nur einem Tag oder auch in nur einer Stunde die gesamte emotionale Palette von «himmelhoch jauchzend» bis «zum Tode betrübt» – um mit Goethes Worten zu sprechen – durchleben.

Wie aber sollen wir sinnvoll mit all den vielen widersprüchlichen und verwirrenden Emotionen* umgehen, die unser Gemüt tagein, tagaus hin und her werfen wie eine ankerlose Barke im Ozean?

Unsere Empfehlung lautet: (1.) Wenn wir gerade von positiven, erhebenden Emotionswellen erfasst und dadurch angenehm aufgewühlt werden, dann dürfen wir diese Emotionen zwar durchaus genießen und uns ihrer erfreuen, solange sie anhalten, aber wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass sie höchst vergänglich und vorübergehend sind. Daher sollten wir nicht unser ganzes Herz an sie hängen und nicht versuchen, sie künstlich festzuhalten oder auch sie künstlich zu erzeugen. Stattdessen können wir den positiven Schwung von solch erfreulichen Emotionen als Impuls und Antrieb dafür nutzen, in das Innere unserer eigenen Gefühlswelt einzutauchen und dann behutsam jene wertvollen Schätze zu heben, die dort in der Tiefe schlummern. Diese Schätze sind die positiven Tiefengefühle, die erhebenden und beständigen guten Charaktereigenschaften und Tugenden, die wir in unserem Inneren zu entdecken und zu entfalten eingeladen sind.

Auf diese Weise können uns freudvolle Emotionen, auch wenn sie flatterhaft und zeitweilig sind, dennoch Vorboten und Wegweiser für die Größe und die Schönheit jener tiefer liegenden Gefühlsgeschenke und Tugenden sein, deren Entfaltung uns dauerhaft erfüllt und glücklich machen wird.

Gerade dann, wenn es uns emotional gut geht, wenn wir einen emotionalen Höhenflug erleben und für einige Momente in unserem Dasein rundum zufrieden und sorgenfrei sind, sollten wir diese Gelegenheit dankbar und achtsam dafür nutzen, um uns einen stärkeren Zugang zu unseren positiven Tiefengefühlen zu bauen. Gerade in Momenten der Fröhlichkeit und der Lebendigkeit könnten wir beispielsweise unsere Freunde anrufen und unsere liebevollen Beziehungen vertiefen, und nicht nur dann, wenn es uns gerade schlecht geht und wir uns mies fühlen. Gerade in Momenten der Leichtigkeit und der Zuversicht könnten wir etwa auch den Kontakt zu unserem Begleitengel, zum Göttlichen oder zu Gott aktiv suchen, und nicht nur dann, wenn wir uns schwer oder traurig oder verlassen fühlen. Dadurch können wir die erhebenden Gefühle der Zufriedenheit, der Sorglosigkeit und der Lebensbe- jahung dauerhaft in unser Leben einladen.

(2.) Und wenn wir gerade von negativen, erniedrigenden Emotionswellen heimgesucht, belästigt und verwirrt werden, dann sollten wir auch diese nicht übermäßig ernst nehmen – weder bei uns selbst noch bei anderen Menschen –, denn auch sie werden schon bald wieder vorübergehen und anderen Emotionen weichen. Warum sollten wir uns über jemanden ärgern oder ihn verspotten oder gar verurteilen, nur weil er gerade von einer Welle kurzlebiger negativer Emotionen überspült wird? Und noch fataler: Warum sollten wir uns selber gering schätzen, erniedrigen oder gar verurteilen, nur weil unser eigener Emotionskörper gerade von destruktiven Gefühlsregungen gepeinigt wird? Besser ist es, in solchen Momenten möglichst Ruhe zu bewahren inmitten von negativen Emotionsstürmen und sich so gut es geht in der Harmonie seiner eigenen inneren Schönheit und Ausgeglichenheit zu verankern.

Allerdings gibt es auch hier eine wichtige psychologische Erkenntnis, die wir aus dem plötzlichen Auftauchen unliebsamer Emotionen ziehen können: Sie können uns nämlich aufschlussreiche Hinweise darauf geben, welche versteckten Untugenden in unserer eigenen verborgenen Tiefe – genauer: in den dunklen Schattenbereichen unserer unkontrollierten mentalen Gefühlsmuster – noch darauf warten, von uns erkannt und transformiert zu werden.

*Emotion = «Gemütsbewegung, gefühlsmäßige Aufregung und Verwirrung» [< lat. emovere oder auch exmovere = «in Bewegung versetzen, hinausbewegen, emporwühlen, erschüttern, verwirren»].

10. März 2020 |